Der Bioskopische Raum

Der Einfluss der Wahrnehmungspsychologie und des Films auf die Gestaltung des ›Raumes für konstruktive Kunst‹ (El Lissitzky, Internationale Kunstausstellung 1926 in Dresden). 
Ein Forschungsprojekt (2016-2018) in enger Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (Albertinum, Neue Meister): Dr. Hilke Wagner und Dr. Birgit Dalbajewa  

Finanzierung: Fritz Thyssen Stiftung Köln

Idee, Konzept, Antrag, Leitung: 

Kai-Uwe Hemken

Team in Kassel:

Julia Gens
Simon Grosspietsch
Linda-Josephine Knop
Lisa-Maria Schmidt

Der Künstler El Lissitzky

Im Jahr 1926 wurde El Lissitzky (1890–1941) von der Leitung der Internationalen Kunstausstellung Dresden, namentlich von dem Kurator Hans Posse und dem Ausstellungsarchitekten Heinrich Tessenow, beauftragt, einen ‚Raum für konstruktive Kunst’ zu gestalten. Die im Raum für konstruktive Kunst, wie der Raum zeitgenössisch betitelt wurde, versammelten Werke waren internationalen Ursprungs, d. h. sie repräsentierten im Gegensatz zu den anderen Räumen der Kunstschau keine Nation. So waren neben den Werken Lissitzkys und Piet Mondrians auch Exponate von László Moholy-Nagy, Francis Picabia, Willi Baumeister und Oskar Schlemmer zu sehen.
Die Besonderheit liegt neben der Konzeption in der Gestaltung der Wände: Vor durchgängig grau gestrichene Wände stellte Lissitzky vergleichsweise tiefe Holzlamellen, die im Wechsel schwarz und weiß bemalt waren. Diese Veränderung der Wandfarbe wird nur durch die Bewegung Besuchenden erfahrbar: Wandelt man durch den Raum, so schlägt die Hintergrundfarbe der Exponate unablässig von schwarz zu grau zu weiß und umgekehrt um. Lissitzky hoffte, dadurch die Betrachtenden im Raum aktiv werden zu lassen. Zudem wurde man veranlasst, bewegliche Lochbleche an den Wänden eigenhändig zu verschieben. Auf diesem Wege konnten die Besuchenden Exponate verdecken und wieder sichtbar werden lassen, um die Kunstbetrachtung eigenhändig und individuell zu steuern.
Forschung

Ziel des Forschungsprojektes war, neue Archivalien zu sichten und zu bewerten, mit den bisherigen Informationen resp. Forschungsstand abzugleichen und neue Forschungsfragen Ziel des Forschungsprojektes war, neue Archivalien zu sichten und zu bewerten, mit den bisherigen Informationen resp. Forschungsstand abzugleichen und neue Forschungsfragen zu verfolgen. Darüber hinaus galt es, auf einer Fachtagung Experten und Expertinnen der Lissitzky- und Avantgarde-Forschung zusammenzuführen und über Fragen der Raumrekonstruktion in einen konstruktiv-kritischen Dialog zu treten.

Der Avantgardist wollte nach eigenen Worten einen neuen Typus und Standard von zukunftsweisenden Museumsräumen schaffen. Für diese Erklärung in eigener Sache sah sich Lissitzky durch den Umstand veranlasst, dass die zunächst als temporäres Ausstellungsdesign gedachte Gestaltung unmittelbar nach dem Ende der Kunstschau (IKA 1926) ihren dauerhaften Eingang in ein Museum gefunden hatte. Denn ein fachkundiger Ausstellungsbesucher namens Alexander Dorner, seines Zeichens Oberkustos am Provinzialmuseum Hannover (heute: Niedersächsisches Landesmuseum Hannover), fand in Lissitzkys Raumdesign eine künstlerische Entsprechung des eigenen kuratorischen Konzeptes.

Die bisherige Forschung hat sich vornehmlich dem Nachfolgeraum in Hannover gewidmet. Hier war besonders das Verhältnis von Avantgarde-Raum und Museum relevant, das für die damalige Modernisierung eines demokratischen Museumswesens neue Anregungen lieferte. Nur wenige Kunstwissenschaftler*innen haben sich jenseits dieser Prioritätensetzung explizit mit der Dresdner Version befasst und haben in diesem Zuge vornehmlich eine Einbettung der Raumgestaltung in Lissitzkys Schaffen (Prounenraum und Bildästhetik, Propaganda-Räume der Nachfolgezeit) vorgenommen. Lissitzky ging es um eine manifestartige Visualisierung eines modernen Raumkonzeptes, dem er als Architekt verbunden war.

Seitens des Projektleiters wurde die These aufgestellt, dass für Lissitzky wahrnehmungspsychologische Aspekte, wie sie dem zeitgenössischem Leitmedium ‚Film/Kino’ zu eigen waren, richtungsweisend waren. Hoffnungen auf weitergehende Erkenntnisse gab die Information, dass neue Archivalien u.a. in Dresden gefunden wurden, die Aufschluss über die damaligen Kausalzusammenhänge geben konnten.

Im Rahmen des Projektes wurden nicht nur Archivalien gesichtet, sondern auch ein Fachtag mit namhaften Experten und Expertinnen verschiedener Richtungen sowie eine 1:1-Rekonstruktion des sogenannten Postrometr realisiert.

Lissitzky und der Film

Bereits in der ersten Hälfte der 1920er Jahre hatte sich Lissitzky systematisch und anhaltend mit der Wahrnehmung auseinandergesetzt. Zunächst auf dem Felde der Typografie, die er gemeinsam mit einer Reihe von mitteleuropäischen Avantgardisten erneuerte. Im Zuge dieser Gestaltungsarbeit legitimierte er die sogenannte Balken- und Linientypografie durch eine neue Form der Wahrnehmung, wie er in seinem Aufsatz ‚Topologie der Typografie‘ verdeutlichte. Hier tritt erstmals der Begriff ‚Bioskopie’ in Erscheinung. 1925 veröffentlichte Lissitzky seinen Aufsatz K. und Pangeometrie, der die Wahrnehmung auf den Raum konzentrierte und sogleich seine Thesen zu einer Systematisierung der menschlichen Raumwahrnehmung vorstellte. In der 1925 publizierten Schrift ‚Kunstismen’ zieht Lissitzky nicht nur Bilanz die Avantgarde-Szene betreffend (und dies bisweilen mit einer gewissen Bissigkeit), sondern proklamierte den Film und das Foto als zukunftsweisende Medien in der Kunst. Er hatte zeitgleich Kontakt zum Experimentalfilmer Viking Eggeling, mit dem er ein gemeinsames Kunstprojekt starten wollte, wie er sich in seinem Nachruf auf Eggeling erinnerte: Es ging nicht nur darum, einen neuartigen Film zu realisieren, den es auf die Leinwand zu projizieren galt, sondern die Projektions-Lichtstrahlen selbst als Material der künstlerischen Produktion zu verstehen. Als Architekt arbeitete er 1924 an der sogenannten Lenintribüne, die nicht von einem Rednerbalkon bekrönt werden sollte, sondern von einer monumentalen Kinoleinwand, die als Frühform des modernen Public Viewing die zentralen politischen Losungen unter die Leute zu bringen hatte.

Postrometr

Die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmungspsychologie seitens Lissitzky bekam im Jahre 1925 offenbar neuen Aufschwung, als sich der Architekt in verschiedenen Texten mit dem Phänomen ‚Raum‘ auseinandersetzte. Der Hintergrund dieses Schwerpunktes ist offenkundig in der Zusammenarbeit Lissitzkys mit Nikolai Ladowski zu suchen, der als Cheftheoretiker der Architektengruppe Assoziation neuer Architekten (ASNOWA) Lissitzky gewinnen konnte, für diese Gruppe als Europarepräsentant zu wirken. Ladowski erachtete die wissenschaftsbasierte Erforschung der menschlichen Raumwahrnehmung (Psychotechnik) als ultimative Grundlage für die Gestaltung einer neuen Architektur, wie er in seiner Schrift ‚Ein psychotechnisches Laboratorium der Architektur‘ ausführte. 

Um die Stichhaltigkeit der Vorbildfunktion dieser Apparatur für Lissitzkys Raumkonzept zu überprüfen, bedurfte es einer 1:1-Rekonstruktion des sogenannten Postrometr (siehe Galerie), eines von mehreren Prüfungsgeräten Ladowski zur Raumwahrnehmung. Der Postrometr wurde in Originalgröße von dem Desigernduo Waldweg Kassel (Sarah Wegner, Verena Waldmüller) realisiert.

Vergleich Archivbild - Rekonstruktion Postrometr